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17.12.24

Im Rahmen eines deutsch-ukrainischen Kooperationsprojekts haben Studierende der Universität Leipzig und der Iwan-Franko-Universität Lwiw Werke ukrainischer Gegenwartsautoren ins Deutsche übersetzt. Der Beitrag gewährt Einblicke in den vielschichtigen Lernprozess dieses Gemeinschaftsprojekts und beleuchtet Vorteile, die sich aus der transnationalen und interdisziplinären Zusammenarbeit sowie der Einbindung von Experten und Autorinnen ergeben haben.

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Der russische Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 hat in der ukrainischen Gegenwartsliteratur vielfältigen Niederschlag gefunden. Erzählungen, Romane, Gedichte und Theaterstücke, umfangreiche Dokumentationen, Blogeinträge, Chroniken und Tagebücher, nicht zuletzt auch Bücher für Kinder und Jugendliche vermitteln ein multiperspektivisches Bild auf das Kriegsgeschehen und thematisieren das Erleben von Angst, Leid, Verlust und Vertreibung. Um diese Tragödie mitten in Europa sichtbar zu machen, haben insgesamt 16 Studierende der Nationalen Iwan-Franko-Universität Lwiw (IFNUL) sowie verschiedener Hochschulen in Deutschland (u.a. der Universität Leipzig) im Rahmen eines innovativen Übersetzungsprojekts eine Auswahl ukrainischer Texte gemeinsam ins Deutsche übersetzt. Die Mehrzahl der Autorinnen und Autoren ist in Deutschland noch weitgehend unbekannt. Einige von ihnen sind im Krieg ums Leben gekommen.

Im Rahmen des vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) geförderten und am projektbasierten Lernen orientierten Vorhabens fand im März 2024 in Leipzig ein Auftaktworkshop statt, bei dem die anstehenden Arbeiten besprochen wurden. Den Studierenden standen dabei Expertinnen und Experten zur Seite, z.B. zu modernen Technologien der Übersetzungswissenschaft oder zur Nutzung des digitalen Ukrainisch-Deutschen Wörterbuchs. Außerdem führten die Studierenden Gespräche mit ukrainischen Autorinnen und einer Zeitzeugin, die über ihre Flucht aus dem besetzten Mariupol berichtete. Der Lernprozess war dementsprechend vielschichtig und reichte von technischen Aspekten des Übersetzens über den Erwerb von Kontextwissen bis hin zur Entwicklung analytischer Fähigkeiten in Bezug auf die Beurteilung von literarischen Übersetzungen. Nach dem Auftaktworkshop arbeiteten die Studierenden in deutsch-ukrainischen Tandems selbstständig an den Übersetzungen und wurden dabei von den beiden Projektverantwortlichen beratend begleitet.

Beim Abschlussworkshop im August (ebenfalls in Leipzig) präsentierten die Tandems ihre Übersetzungen und diskutierten sprachliche und inhaltliche Aspekte mit einem literaturwissenschaftlichen Experten. Für den Kompetenzerwerb der Studierenden stellte die Diversität der Gruppe einen erheblichen Vorteil dar: Während es sich bei den Teilnehmerinnen aus Lwiw sämtlich um Studentinnen der Translationswissenschaft handelte, vertraten die Studierenden aus Deutschland unterschiedliche Fachrichtungen, so u. a. Soziologie, Germanistik, Literaturwissenschaft, Osteuropastudien und Slavistik. Entsprechend vielfältig waren auch die Rückmeldungen zu den vorgestellten Übersetzungen. So galt es u. a. zu klären, inwieweit eine eher apologetische Haltung gegenüber historischen Figuren des ukrainischen Nationalismus wie Stepan Bandera durch kritische Kommentare in der jeweiligen Übersetzung relativiert werden muss. Aus Sicht der beiden Projektleitenden, die den Austausch moderierten, war besonders eindrucksvoll, wie der interdisziplinäre Diskurs die Studierenden dazu angeregt hat, die eigene, fachliche Perspektive zu schärfen und wissenschaftsbasiert zu artikulieren. Trotz ihrer verschiedenen und für das Übersetzungsprojekt sehr hilfreichen Vorkenntnisse erwiesen sich die Arbeit an und mit den Texten und die begleitenden Workshops für die Studierenden als wertvolle Gelegenheit, Neues zu lernen. Für die Teilnehmerin Hannah Wolf, die gemeinsam mit ihrer ukrainischen Tandem-Partnerin Anna-Mariia Bilinska Texte von Bohdan Lohwynenko und Nadija Suchorukowa übersetzt hat, war das Projekt eine wichtige Erfahrung:

"Das Tandem-Übersetzungsprojekt war sowohl in fachlicher als auch in menschlicher und interkultureller Hinsicht eine große Bereicherung und hat meine Erwartungen bei Weitem übertroffen. Das betrifft einerseits die direkte Übersetzungsarbeit, das Finden feinster semantischer Nuancierungen und eines möglichst passgenauen deutschen Äquivalents für die ukrainischen Ausdrücke und die Vermittlung kulturellen, literarischen und historisch-politischen Hintergrundwissens zur Ukraine während der Workshops. Andererseits hat mich der intensive zwischenmenschliche Austausch über das gegenwärtige Leben im Krieg, den ich insbesondere mit meiner Tandempartnerin hatte, in vielerlei Hinsicht zum Denken angeregt. Mir selbst wurde bei alledem mehr als zuvor verdeutlicht, in welch wichtiger vermittelnder Position ich mich sowohl in der Übersetzungs- als auch der interkulturellen Zusammenarbeit befinde, und dass ich dies in Zukunft unbedingt weiter fortführen möchte."

Für Karina Iwanowa war vor allem der interkulturelle Austausch – nicht nur durch die direkte Zusammenarbeit mit den deutschen Studierenden, sondern auch durch das Medium der Literatur – ein großer Gewinn, insbesondere auch die Möglichkeit, Schwierigkeiten bei den Übersetzungen in der Gruppe zu besprechen und dadurch zu guten Lösungen zu gelangen.

Die im Rahmen des Übersetzungsprojekts entstandene und von Oksana Molderf (IFNUL) und Dr. Christian-Daniel Strauch (Universität Leipzig) herausgegebene Anthologie „Wiedergeburt in Waffen. Die ukrainische Literatur nach der Invasion“ wurde von den beteiligten Studierenden Mitte Dezember 2024 im Polnischen Institut Leipzig der Öffentlichkeit vorgestellt.

 

Fotocredits: © Christian-Daniel Strauch

Autor:in

Oksana Molderf (oksana.molderf@lnu.edu.ua) & Christian-Daniel Strauch (christian-daniel.strauch@uni-leipzig.de)